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Istanbul - Die Blinde Perle-Stadtwanderungen 1987 bis 1995 -
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Istanbul - Die Blinde Perle-Stadtwanderungen 1987 bis 1995

März 2015. - Es sind jetzt fast dreißig Jahre her, d.h. es war 1988, dass ich mich für längere Zeit nach Istanbul auf den Weg gemacht hatte – auf den Weg zu einer Stadt, die über Jahrhunderte als „Perle am Bosporus“ gelobt, besungen wurde. Wenn „Perle“, so war es eine blinde, matt gewordene Perle, die ich damals am Bosporus antraf.

Blind, matt, dies unter anderem als Folge der Einwanderungsflut von Dörflern aus den Weiten Anatoliens, die über Istanbul hereingebrochen war. Aus einer Großstadt – 1953 lag die Einwohnerzahl Istanbuls bei knapp 900 000 – wurde binnen fünfunddreißig Jahren eine zweistellige Millionen-Stadt oder genauer, ein konturloses Bevölkerungs-Agglomerat von riesiger Ausdehnung und Dichte an Bevölkerung.

1988 schätzte man die Einwohnerzahl Istanbuls auf zwölf Millionen (das Dreizehnfache der Zahl von 1953), die Vorstädte, wie Gebze, Ismit, Catalca, Silivri usw. mit gezählt, brachte es der Großraum Istanbul auf vierzehn Millionen Einwohner. Und die Stadt wuchs weiter, einer groben Zählung nach täglich um achthundert Menschen.

Die Menschen kamen in der Hoffnung auf ein besseres Leben und sie siedelten sich überwiegend in sog. Gecekondus (Slums) an, die sich als breiten Gürtel um die Stadt in der ursprünglichen Form gelegt hatte. Sie fettete sich ständig weiter auf, wucherte unaufhalsam tiefer in Maccia und Wälder des Umlands Istanbuls hinein. Das Drama einer jeden (industriellen) Schwellenland-Metropole.

Das besondere Istanbuls ist, dass Teile der Immigranten in die Altstadtviertel der Stadt, etwa in Bezirke wie Beyoglu, Fatih, Zeytinburnu oder in die einstmals gerühmten Quartiere entlang des sog. Goldenen Horns (Halic) eindrangen. Die dort seit Jahrhunderten ansässig gewesenen Bürgers hatten die Viertel verlassen, hatten sich in der Stadt anderenorts niedergelassen oder sind ausgewandert.

Ein Grund dafür war neben anderem, dass mit dem Niedergang des Zimmermanns-Handwerks und der Verteuerung des Holzes, die vielfach aus Holz-(und Lehm-)Material gebauten, oft schmuckreich verzierten Bürgerhäuser, (was zuweilen auch konaklar, Stadtvillen waren), nicht länger instand zu halten waren.

Ein anderer Grund war, dass die Familien der Eigentümer zerfallen waren, die Nachkommenschaft um besserer Entwicklungschancen wegen ins Ausland gegangen waren und so die Häuser verwaisten. Gleiches gilt die Häuser von Minderheiten, wie die von Alters her im Zentrum Istanbuls ansässigen Griechen, Armenier, Juden, die aus unterschiedlichen Gründen die Stadt verlassen hatten, verlassen mussten.

Gerade diese im alten Istanbul verbreitete, oft schmuckvolle Holzarchitektur trug wesentlich zu dem Beinahmen „Perle am Bosporus“ bei. Davon geblieben sind bei meinem Kommen aber nur noch Reste. Dem auch galt neben anderem mein fotografisches Interesse.

Weniger aber der bauliche Zerfall dieser Architektur und auch nicht das Einsickern der Immigranten in das Innere der Stadt hatten zum Schwinden dieser Besonderheit Istanbuls beigetragen, mehr hatten es die Bagger des türkischen Ministerpräsidenten Adnan Menderes getan.

Menderes nämlich startete Mitte der fünfziger Jahre einen „Modernisierungs“-Angriff auf Istanbul. Er wollte aus Istanbul eine Stadt gleich den Metropolen in Europa und der USA machen. Dem fiel in Istanbul eine Unmenge an historischer Bausubstanz zum Opfer. Verschiedene Stadtobere Istanbuls in der nachfolgenden Zeit taten es Menderes nach – dies aber fehlender Geld-Mitteln sparsamer. Von der Perle geblieben war, als ich nach Istanbul kam, dennoch so einiges. Ja, und dem ging ich mit Fotoapparat nach.

Die Stadt-Zuwanderer waren mir ein weiteres Thema. Das heißt, dieses drängte sich mir auf. Meine Wohnnachbarn , anfangs in Yedikule und später in Koca Mustafa Paşa, waren vielfach Dörfler aus Anatolien . Mehr noch jedoch begegnete ich ihnen bei meinen täglichen Wegen durch die Stadt. Arbeit nämlich, sprich das ekmek parasi (Geld für den Lebensunterhalt) fanden sie, will sagen fand eine Mehrheit der Immigranten, so jedenfalls mein Eindruck, auf der Straße – dies via Straßenhandel. Petty trade auf Schritt und Tritt! Genaue Zahlen dazu gab es natürlich nicht.

Andere Immigranten - Männer, Frauen Kinder - arbeiteten zu Minilöhnen auf dem Bau, in Werkstätten, in Klitschen (klein-industrielle Produktionsstätten), in Manufakturen. Auch denen galt mein Interesse.

An Hunger leidenden Menschen bin ich in Istanbul nur selten begegnet, ebenso wie auch die Gecekondus eher von baulich festen Charakters waren. Und anders als man das aus Lateinamerika und Afrika kennt, zerrissen die Familienbande der Immigranten nicht, und war die Kriminalität auf der Straße gering. Betrug, Täuschung, Übervorteilung, Taschendiebstahl, daran fehlte es nicht (war selbst gelegentlich das Opfer), aber auch in den finstersten Winkeln der Stadt hatte man selbst des Nachts nicht um Leib und Leben zu fürchten.

Siebzehn Jahre, d.h. von 1988 bis 2005 war ich als, nenne ich es „Halb-Bürger“ in Istanbul ansässig – dies in drei vom Charakter her verschiedenen Stadtteilen. Der türkischen Sprache mächtig, kam ich, nebenher bemerkt, leicht auch mit den Menschen der Stadt ins Gespräch (und bekam sie vor die Kamera).

Die nachfolgenden Fotos sind ausgewählt aus den ersten elf Jahren meiner Anwesenheit in der Stadt. Schwarz-Weiß-Fotos, dies mit einer Mittelformat-Kamera gemacht (d.h. mit 6x6-Filmen). Das brachte eine bessere Auflösung und mehr Schärfe. Das Unhandliche der Kamera (eine zweiäugige Mamiya, mit Objektiven vier Kilo wiegend) erschwerte natürlich sog. Schnappschüsse, erzieht aber zu einem durchdachtem, planvoll angegangenen Fotografieren. Entstanden sind drüber um die fünfhundert Filme.

Seit Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts erlebt die Türkei einen sog. Wirtschaftsboom. „Gewinn“ zieht daraus insbesondere Istanbul. Unmenge an Geld fließ seit fünfzehn Jahren in die Stadt – Geld auch fürs Bauen und für die sog. Modernisierung der Infrastruktur (da insbesondere für ein auto-gerechtes Straßennetz).

Meine Fotos dokumentieren das Istanbul der Vor-Boom-Zeit oder genauer, das anatolisierte, politisch und wirtschaftlich krisen-geschüttelte Istanbul des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts, eine Zeit also, in der das alte, als Perle am Bosporus gelobte Istanbul noch ein Stück weit fortgelebt hatte.

Nun, besagter take off und der davon ausgehende Bau-Boom hat das damals noch gebliebene Alte nicht gänzlich niedergemacht, aber das sog. „moderne“, „blühende“ Istanbul ist inzwischen eine andere, nein, sage ich korrekter, eine wesentlich gewandelte Stadt.

Hoch interessant ist die Stadt noch immer, aber längst nicht mehr so aufregend, wie ich Istanbul in den achtziger und neunziger Jahren erlebte. Okay, „aufregend“ klingt zynisch angesichts der damaligen großen Armut breiter Bevölkerungsteile und der desolaten Infrastruktur der Stadt, aber darin bin ich nicht viel anders als all jene, die mit Anspruch fotografieren.

Genaueres über das Istanbul des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts ist nachzulesen in den von mir zu jener Zeit geführten Tagebüchern, publiziert unter den Titeln „Blinde Perle am Bosporus – Tagebuchaufzeichnungen mit Fotos aus Istanbul“, Demet-Verlag 1999, und „Apfelbäume sterben langsam – Aus Tagebuch und Fotomappe eines Stadtwanderers in Istanbul“, Lambertus-Verlag 2003.

Barbara Yurtas schreibt zu den Büchern in einem Istanbul-Reiseführer des Insel-Verlag: „Es [gibt] kaum die Darstellung eines ‚Fremden’, die so nahe am Objekt, so neugierig im guten Sinne ist, und [man] deshalb immer wieder zu Eindrücken fern von jedem Klischee gelang.“

, März 2015



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